Die Mär vom selben Boot II

Vor ziemlich genau einem Jahr stand hier im Blog unter dieser Überschrift, dass durch die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung nun sichtbar werde, dass wir eben doch nicht alle im viel beschworenen „selben Boot“ säßen.

Ich hatte den Eindruck, dass diese Umkehrung einer Metapher auch unter Sozialarbeiter_innen und anderen Professionalist:innen aus dem Sozialbereich durchaus Resonanz fand. Zumal sie ja nicht hier im Blog erfunden wurde, und mir in unterschiedlichen Medien begegnete. Und das, obwohl die solidarische Gesellschaft, für welche dieses Sprachbild steht, im Sozialbereich tendenziell hoch bewertet wird.

Aus heutiger Sicht ist es für mich nachvollziehbar, und ich erinnere mich an die Vermutung aus den Anfangszeiten der Pandemie, dass alles „auf-den-Kopf-Gestellte“ möglicherweise der „neuen Normalität“ näher sei, als die altbekannten Formen. Dieses Umdrehen beinhaltet ein Hinterfagen, dass angesichts der großen Ungewissheit, welche die Pandemie mit sich brachte, nahe liegt: „Sitzen wir alle (noch) im selben Boot?“

Unter Kolleg:innen und Bekannten hörte ich mich (und andere) oft sagen: Wir dürfen nicht jammern, wir sollten froh sein, uns geht es im Verhältnis ja doch sehr gut. Aber dort wo materielle Not mit im Spiel ist, dort wo psychische Erkrankungen, Gewalt oder Vereinsamung schon vorher an Bord waren - diese „anderen Boote“, die drohen zu versinken. Wenn man, wie ich, vorher der Meinung war, wir säßen alle im selben Boot, dann müsste man eigentlich Angst davor haben, dass es nun auseinanderbrechen könnte. Aber nachdem Papier geduldig ist, kann man auch die Metapher ändern, auf ein Art und Weise, die den Glauben ans eigene (wirtschaftliche und soziale) Überleben besser integrierbar macht.

Mit der anhaltenden Dauer der immer wieder zwar leicht angepassten, aber insgesamt doch sehr einschränkenden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, stellte sich auch bei mir zunehmende Coronamüdigkeit ein. Genauer genommen ist es eine Mischung aus „Coronatraurigkeit“ und „Coronagleichgültigkeit“. Das hohe Maß an Strukturarbeit, das uns Allen durch den Wegfall externer Regelmäßigkeiten abverlangt wird (Schulen, Kinderbetreuung, Vereine, Freizeitroutinen, mitunter auch die Erwerbsarbeit…) ist mühsam und für Viele nur in der Hoffnung, es sei eine Übergangslösung, bewältigbar. Je nach Ausprägung ist es schlichtweg eine Überforderung. Wo es an Struktur mangelt, geht der Wegfall von Vorfreude und Spannung auf gemeinsame kulturelle, sportliche, ehrenamtliche, konsumistische oder sonstige Aktivitäten mit zunehmenden Motivationsschwierigkeiten einher. Ich bemerke einen zunehmenden Mangel an Lebensfreude, der unabhängig vom Wohlstand grassiert.

Und da ist es plötzlich wieder: Das „eine Boot“. Was uns über Wasser hält, was uns ein gutes Leben für Alle ermöglicht, ist als Menschen- (und – pandemisch besonders beachtenswert – auch als Kinderrecht) formuliert. Und das, was uns glücklich macht und einander als Menschen begegnen lässt, hält uns entweder alle über Wasser, oder niemanden.

Der „Gong“ zum Ende der aktuellen Lockdown-Runde wird wohl wieder Einige retten. Vielleicht ist es ja jetzt vorbei…?

10. März 2021, Leonhard Preiss