Die Mär vom selben Boot

Während der einschränkenden Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung wurde immer wieder davon gesprochen, dass wir uns im selben Boot befinden. Ein Blick auf „unsere“ Familien zeugt vom Gegenteil.

Die Auswirkungen des Corona-Virus hat uns in Mitteleuropa alle mehr oder minder zum selben Zeitpunkt getroffen. Sogar der Papst der katholischen Kirche meinte in einer Predigt Ende März, dass wir alle im selben Boot sitzen würden bei der Bekämpfung der Pandemie.

Doch wenn man die Situation etwas differenzierter betrachtet, dann mutet dieses Zitat fast ein wenig zynisch an: Während manche sich ohne Einkommensverluste ins Home-Office zurückziehen konnten und zum Feierabend von ihren Balkonen musizierten, wurde die Pandemie für andere zum Existenzkampf.

Auch wir bei PINA wurden gebremst, und zwar nicht nur in unserem Bildungszentrum, sondern vor allem auch in der Begleitung von Familien, die bereits vor dem Lockdown mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Manche waren im März und April auf unsere Unterstützung angewiesen, da der Wegfall von Tagesstruktur sowie teilweise medizinischen und psychosozialen Versorgungsangeboten zu einer massiven Zuspitzung der Situation geführt hatte.

Andere erlebten genau das Gegenteil: Der Wegfall von Druck bspw. durch das Schulsystem führte in manchen Familien zur Entlastung, auf die wir in der weiteren Begleitung zur Stabilisierung der betroffenen Familien aufbauen können.

Wie wenig wir uns im selben Boot befinden wird auch daran deutlich, wie der Blick in andere Regionen dieser Welt in unserem kollektiven Aufatmen so gut wie komplett untergeht. Wie geht es eigentlich Ländern in Afrika, Ozeanien, Südamerika, etc. mit der Bekämpfung des Corona-Virus? Wie wirkt es sich aus auf Länder, die schon davor große Schwierigkeiten mit der gesundheitlichen Versorgung ihrer Bevölkerung hatten?

Vor einigen Wochen fand ich im Internet einen Text eines unbekannten Autors, dessen Anfang ich folgendermaßen übersetzt habe:

„Ich habe gehört, wir seien alle im selben Boot, aber das stimmt nicht. Wir sind im selben Sturm, aber nicht im selben Boot. Dein Boot könnte Schiffbruch erleiden und meines nicht. Oder umgekehrt.“

So wurden nicht nur die letzten Wochen sehr unterschiedlich erlebt, sondern es werden v.a. auch die nächsten Monate nach allem, was heute abzusehen ist, noch sehr viel Unterschiedlichkeiten aufwerfen. Soziale und ökonomische Differenzen in der Bevölkerung sind derzeit so sichtbar wie schon lange nicht mehr; innerhalb eines reichen Landes wie Österreich, aber genauso im Vergleich unterschiedlicher Regionen dieser Welt.

Entscheidend wird sein, dass wir diese Differenzen realisieren, genau hinsehen und die Chance ergreifen, die derzeit am ärgsten Betroffenen künftig besser abzusichern. Es wird sich zudem weisen, inwiefern die Wertschätzung für die Systemerhalter_innen nun in der weiteren Planung zu sichtbaren Ergebnissen führt im Sinne einer Verbesserung des Unterstützungsangebotes für diese Gruppen.

2. Juni 2020, Martin A. Fellacher